Urbane Aufzeichnungen
Isabel Zürcher
Wie muss Wissen über öffentliche Räume beschaffen sein, damit es für die künstlerische Arbeit nutzbar wird? Oder umgedreht: Wie kann das ästhetische Verfahren der Zeichnung Methoden entwickeln, die für theoretische Fragestellungen wertvoll sind? Als Reflex auf Farben, Klänge, Temperaturen oder Gerüche folgen Maria Lichtsteiners handschriftliche Aufzeichnungen der Bewegung im städtischen Raum. Bleistift- und Farbstiftspuren sind Erinnerung an urbane Augenblicke, visuelle Kürzel für die Beobachtung auf Strassen, an Haltestellen oder in Fussgängerzonen. Maria Lichtsteiner kartografiert ihre eigenen Wege sowie Richtung und Geschwindigkeit anderer, von ihr nicht zu beeinflussender Abläufe. Häufig ausgehend von der Vogelperspektive auf Siedlungen, mutieren die Linien auch zum Horizont oder vermessen mit Pfeilen, Schraffuren und Zahlen die Weite und Beschaffenheit des Raums. Scheinbar provisorisch und doch in Formaten, die auf mehr als nur Notizen schliessen lassen, übersetzt das Zeichnen Anhaltspunkte der Erinnerung in eine sinnliche, auch Text integrierende Sprache. Das gleichzeitige, fragmentarische Schreiben mündet nicht in schlüssige Erzählungen, sondern ist Beleg einer augenblicklichen Aneignung, eine so unmittelbare Reflexion, dass sie jeder voreiligen Wertung aus dem Weg geht.
Maria Lichtsteiners Stadtlektüren wären so nicht denkbar ohne ihre langjährige Erfahrung fremder Orte: Aufenthalte im australischen Perth, in Berlin, Paris, Edinburgh und insbesondere in Kiew setzten über Monate und Jahre gewohnte Orientierungs- und Kommunikationsmuster ausser Kraft. Deren Absenz verlangte umso mehr Systeme der Ordnung in der ästhetischen Arbeit. Lichtsteiners in Kiew entstandenen Zeichnungen sind lesbar als Speicher: Menschen, Landschaften und Architekturen gingen als Summe kleiner Teile in ornamentale Kompositionen ein, bildeten Teppiche aus, deren langsamer Entstehungsprozess auch die Zeit in anderen Mentalitäts- und Klimazonen verdichtet.
Wuhan 2010
Katalog Text Owen Griffith 2009